Als die Nacht langsam herein brach saß Rhys noch immer auf dem Kai und blickte zu den Schiffen hinüber. Seine Beine baumelten über der Kaimauer und sein Brot hatte er zur Gänze aufgegessen. Es war ruhiger geworden am Hafen, denn die Schauerleute hatten ihr Tagwerk verrichtet. Die Seefahrer, so sie nicht an Bord Dienst taten, waren in Richtung der Schenken von Nalleshof verschwunden. Das Madamal stand als volles Rad über den Dächern der Stadt und tauchte die Nacht in ein silbriges Licht. Diese Stunde nutzte Rhys und glitt erst aus seiner Kleidung, dann an einer in der Mauer eingelassenen Stiege hinunter ins Wasser.
Das Wasser war kalt und stach wie spitze Dolche in seine Haut. Doch wusch es ihn von all dem Dreck und Schmutz, welches ihn bedeckte, ab. Der Mann holte tief Luft und wappnete sich innerlich, bevor er gänzlich untertauchte. Unter Wasser strich er mehrfach über seinen Kopf, um auch alle Reste der frühmorgendlichen Dusche zu beseitigen. Prustend tauchte er wieder auf. Machte einige Schwimmbewegungen ins Hafenbecken, bevor er merkte, dass selbst diese Bewegungen nicht für ein warmes Badevergnügen ausreichten. Schnell stieg er die Leiter wieder auf den Kai hinauf und schlüpfte mit gerümpfter Nase in die weiterhin stinkenden Lumpen.
Schnellen Schrittes ließ er den Seehafen hinter sich und strebte den schiefen Häusern und engen Gassen von Orkendorf zu. Nein, er war hier noch nicht fertig. Er wusste selber nicht warum, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er noch einen Handel zu begleichen hätte. Schließlich hatte er eine Verabredung. Mit dem alten Jast in der Taverne „Krähennest“. Wie so viele Orte, die er in den letzten Stunden besucht hatte, war er schon seit über zwanzig Götterläufen nicht mehr hier gewesen. Doch immer bewusster wurde es ihm, wie wohlgesonnen ihm das Schicksal gewesen ist, dass er dieses Stadtviertel verlassen hatte. Das ihn auf Aves Spuren hat wandeln lassen. Das ihn mit Phexens Glück gesegnet hatte. Den Göttern sei Dank dafür.
Direkt an einer Straßenkreuzung liegt die Taverne „Krähennest“, durch deren kleiner Tür Rhys den Schankraum betrat. Einige Stufen führten vom Eingang hinunter in den Raum, in dem schon viele Zecher das Wenige, was sie im Laufe des Tages durch ihre Arbeit als Tagelöhner, Bettler oder Dieb erworben hatten, vertranken und verspielten. Doch es gab auch hier Leute, die arbeiteten: Der Wirt, der Fiddler und die Metzen. In der nur von wenigen Talgkerzen mehr schlecht als recht beleuchteten Raum brauchte Rhys einige Zeit, bis er den alten Jast an einem Tisch ausmachen konnte. Wenig später saß er bei ihm und wurde dessen Zechkumpanen vorgestellt. „Das ist mein Kumpel Rhys. Er ist der Sohn von der Metze Igraine und war früher bei den Knurrhähnen. Ihr erinnert Euch doch sicher noch an die Bande.“
Ja, sie erinnerten sich noch daran. Oder zumindest taten sie so. Mit Sicherheit war seitdem nicht nur viel Wasser den großen Fluss hinunter ins Meer geflossen, sondern auch viele Banden gekommen und gegangen. Doch beim Bier und immer wieder kreisenden Selbstgebrannten des Wirtes verging die Zeit. Viel wurde erzählt von der guten alten Zeit, die in Rhys Erinnerung auch nicht besser war die Erlebnisse der letzten Stunden. Geschichten wurden zum Besten gegeben, Tratsch und Klatsch kam auf den Tisch, zuweilen erzählte man sich auch von dem einen oder anderen Orkdorfer, von dem man über mehrere Ecken hörte, dass er sein Glück gemacht hätte. Doch Rhys fragte Niemand, was er in den ganzen Jahren gemacht hat, denn hier fragte man nach sowas nicht – schließlich erzählten die Wenigsten gerne und freimütig von ihren Verbrechen oder der Zeit im Kerker.
Als das Gespräch sich um einen Bekannten eines Sohnes der Tochter von dem Schwager des Mannes, der mal beim Fleischer gearbeitet hat, drehte, der vor einigen Jahren Orkendorf verlassen hatte und jetzt ein reicher Händler in Drôl sein soll, schlug der Mann, der sich als Cet vorgestellt hatte, auf den Tisch. „Ha! Da habe ich doch fast vergessen Euch von Niall zu erzählen. Der wird sicher bald auch ein reicher Händler sein, wie ich gehört habe.“ Ungläubig schüttelte Jast sein Haupt. „Der Tunichtgut? Du hast sicher zuviel vom Schnaps getrunken, Kumpel. Der ist doch dumm wie Stroh. Und damit habe ich schon das Stroh beleidigt.“ Cet nickte mit Kopf. „Jaja, hast ja recht. Aber so wie er erzählt hat er einen Pfeffersack ausgenommen. Bis auf die Bruche – und das kannst Du wörtlich erzählen.“ Jast winkte ab. „Also ein paar Klamotten und vielleicht ein paar Münzen, das wird ihn aber noch lange nicht zum reichen Händler machen, Kumpel.“ Cet lächelte ihn mit seinen Zahnstümpfen an. „Das vielleicht nicht, aber er hat auch ein Stück Pergament, das ein ganzes Schiff wert ist.“
Hatte Rhys soeben noch in seinen bedenklich leeren Krug geschaut, ruckte nun sein Kopf empor. „Was?“, fragte Jast ungläubig. „Ja, wie ich es sage. Aber der Pfeffersack hat wohl gemeint beim Boltan ein so gute Blatt zu haben, dass er sogar sein Schiff in den Pott geworfen hat.“ Jetzt schaltete sich Rhys ein. „Und wo findet man diesen … Glücklichen?“ Cet, etwas irritiert über diese Frage, deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Das ist der, der gerade geht.“ Rhys drehte sich auf seinem Hocker um und blickte in die angegebene Richtung. Er sah wie ein Mann gerade das Krähennest verließ. Ein Mann, der seinen Mantel und seinen Hut trug. Rhys sprang auf und wollte mit den Worten „Entschuldigt mich, aber ich muss los“ in Richtung Eingang stürmen. Doch Jast hielt ihn am Ärmel fest. „Wieso denn so plötzlich. Wir haben doch noch viel zu erzählen.“ Rhys blickte ihm tief in die Augen. „Es gab kein Boltan-Spiel – nur einen Knüppel aus dem Hinterhalt.“
Kurz verharrte Jarl, dann zeigte sich ein Lächeln, als er verstand. Er nahm die Hand vom Arm und nickte Rhys zu. „Phex mit Dir.“ Dankbar nickte Rhys dem alten Mann zu, bevor er zur Tür eilte. Er riss sie auf und stürmte hinaus die Straße.
Schreibe einen Kommentar